Skizzen zum Zynismus
Hingegen ist der Maßstab für die Sinnesart, welche in einem Menschen wohnt, der: wie weit es ist von dem, was er versteht, bis zu dem, was er tut, wie groß der Abstand ist zwischen seinem Verstehen und seinem Handeln. Wir verstehen im Grunde alle das Höchste; ein Kind, der Einfältigste, der Weiseste, sie verstehen alle das Höchste und alle das Gleiche; denn wir haben, wenn ich so sagen darf, alle an einer und der gleichen Lektion zu lernen. Der Unterschied aber liegt darin, ob wir es auf Abstand verstehen – so dass wir nicht danach tun, oder ganz ohne Umschweife – so dass wir danach tun und „nicht anderes können“, nicht ablassen können, es zu tun […].
Sören Kierkegaard, der Liebe Tun. Gesammelte Werke und Tagebücher. Band 14. Simmerath: Grevenberg 2003, S. 89.
Auf den ersten Blick steht der heutige Begriff des Zynismus in einem diametralen Gegensatz zu seiner ursprünglichen Bedeutung. Der antike Kyniker ist ein Mensch, der seine Werte radikal lebt[i], der moderne Zyniker hingegen ist einer, der nicht bloß keine hat, sondern auch noch jene der anderen verspottet.[ii]
Der Spott über die Werthaltungen der anderen ist aber nicht, wie man vermuten könnte, die eigentliche Essenz dessen, was den modernen Zynismus ausmacht. Vor allem anderen zeichnet er sich dadurch aus, dass er sich weigert, Stellung zu beziehen; er hat so viel Scheu vor der persönlichen Stellungnahme, vor der Einnahme einer wie auch immer gearteten Position in einer moralischen, politischen oder sozialen Frage, dass nicht mehr imstande ist, sich der Frage überhaupt zu stellen.
Der Zyniker ist jemand, der jedwede Art von Verortung fürchtet. Er zieht sich aus der Welt der Darstellung zurück. Aber da auch die vollkommene Enthaltung vom Urteil eine Positionierung seinerseits zur Konsequenz hätte, ja, unausweichlich sogar einen radikalen Standpunkt nach sich zöge, tritt der Zyniker seinen Rückzug mit mal mehr, mal weniger übertriebenen Darstellungsformen an: mit mannigfaltigen ironischen Brechungen, mit Fanatismus, manierierter Gestik, Empörung. Darum findet man ihn nicht selten dort, wo sich andere zum Aufbruch treffen: in der Kunst, in der Philosophie, in der Politik.
Indes wird man keinen Zyniker finden, der sich zu einem solchen erklärt. Denn die zynische Abwehr einer Position bezieht noch die Positionslosigkeit selbst mit ein, sodass auch diese nicht mehr ausgesprochen wird, weil, so Klaus Heinrich, „das kommentierende Aussprechen das Dargestellte mit Sinn erfüllen und dadurch die Darstellung ihres eigentlichen Gegenstandes berauben würde.“[iii] Darum die primäre Beschreibung des Zynikers als Spötter. Spott ist stimmlos, ähnlich dem Bellen eines Hundes (griech. kynos), mit dessen Leben man die antiken Kyniker verglich.
Der moderne Zyniker ist derjenige, der sich des Glaubens an moralische Grundhaltungen entzieht, weil er die Wahrheit als Spiel und Täuschung erkannt haben will. Bei dem Gedanken, für bestimmte Werte einzustehen, fühlt er sich lächerlich. Am allermeisten fürchtet der Zyniker den Spott der anderen. Um seiner Authentizität willen entledigt sich der Zyniker also der Grundlage dessen, was seine Authentizität ausmachen könnte. Am Ende gibt es nichts, das ihm nahegehen kann.
Klaus Heinrich sah im zynischen Traum von der Unberührbarkeit eine eminent politische Gefahr und sieht ihn als einen dominanten Faktor bei der Entstehung des Dritten Reiches an: „So konnte die erfahrene Unmenschlichkeit eines politischen Systems durchaus nicht nur durch Terror und Gewalt, sondern ebenso durch einen alle Beteiligten verbindenden Zynismus befestigt werden.“[iv]
In seiner Antrittsvorlesung an der Freien Universität Berlin erklärte Heinrich die Angst zum primären Motiv des Zynismus. Der Zynismus, so Heinrich, sei eine Schutzhaltung. Dahinter steht „das Abschieben einer Erkenntnis um einer Selbstbehauptung willen, die sich von den Folgen des Erkennens nicht erschüttern lassen will“.[v] Die Erkenntnis voll und ganz abzuwehren ist aber nicht möglich. Denn der Zyniker hat die Bedrohung längst erkannt . Darum kann sie nur wissentlich erfolgen; es ist ein bewusstes Wegschieben von Einsicht, auch von Verantwortung.[vi] (Die jüngsten Versuche, das theologische Paradigma der Erbsünde für die Beschreibung der Situation der sogenannten Ersten Welt zu revitalisieren, finden im Zynismus ein geeignetes philosophisches Surrogat.)
Aus dem Gesagten folgt, dass das Verhalten des Zynikers maßgeblich von jenem seines Umfelds abhängt. Das Bemerkenswerte am Zynismus ist ja, dass der zynischen Haltung eine Erkenntnis, eine richtige Einschätzung der Lage zugrunde liegt. Je schlimmer die Lage, je unqualifizierter und polarisierter die politischen Stimmen, desto leichter wird es dem Zyniker fallen, zynisch zu sein. Je fundamentaler Menschenrechte verletzt werden, Versprechen nicht eingehalten, Gesetze des Anstandes gebrochen, desto rezitenter der Zyniker. Denn auszusprechen, was zu offenbar ist, ist unmöglich.
Eine der Gefahren für die Gegenwart besteht in der Ununterscheidbarkeit von Zyniker und Kyniker. Auch der antike Kyniker bezieht keine Stellung – er hat, anders als die anderen in der polis, kein Dach über dem Kopf. Von Diogenes wird berichtet, er hätte in einer Tonne gehaust und öffentlich masturbiert. Seine Ortlosigkeit ist aber eine wesentlich andere als die seines modernen Nachfahren. Er ist in einem anderen Sinne unzeitgemäß. Einen davon hat Platon in seinem Staat genannt. Der Hund sei jenes Wesen, das einen Unterschied mache zwischen jenen, die er kenne und jenen, die er nicht kenne und sei sanft gegen Bekannte und muthig nach Außen (2. Buch, 14c). Der Hund ist bei Platon das Vorbild eines guten Wächters. Der moderne Zyniker ist hingegen der Kanarienvogel im Bergwerk. An seinem Schweigen können wir ablesen, wie schlimm es um uns steht. Denn es ist unser Schweigen.
„Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit.“ (Elie Wiesel)
Bild: KI-Brot für Gaza
[i] „Schließlich macht er [der Kyniker] aus der Lebensform eine bestimmte Art und Weise, in den Handlungen, in den Körpern, in der Art der Kleidung, in der Art des Benehmens und des Lebens, die Wahrheit selbst sichtbar werden zu lassen. Kurz, der Kynismus macht aus dem Leben, aus der Existenz, aus dem bios, das, was man eine Alethurgie, eine Manifestation der Wahrheit nennen könnte.“ Michel Foucault, Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II. Vorlesungen am College de France 1983/84, Frankfurt am Main: Suhrkamp Berlin 2010, S. 227.
[ii] Im 18. Jahrhundert entwickelt sich ein pejorativer Begriffsgebrauch aus der Unterstellung, der unangepasste, weil asketische Lebensstil des Kynikers, also des kynischen Philosophen, entspreche einer Haltung des Laissez-faire und einer Verachtung gegenüber gesellschaftlichen Normen. Vgl. Friedrich Kirchners Definition des Zynismus als einer „Auffassung und Führung des Lebens, welche alles, was über den Standpunkt des Bedürfnisses hinausgeht, verachtet. Bequemlichkeit, Luxus, vor allem Anstand, Sitte, Kunst, Wissenschaft und Bildung sind in den Augen eines zynischen Menschen nichts; ja er gefällt sich darin, sie geflissentlich zu verhöhnen.“
[iii] Klaus Heinrich, Antike Kyniker und Zynismus in der Gegenwart, in: Das Argument 37, 1966 (8), Theorien der Vergeblichkeit (I). Zur Ideologiekritik des Nihilismus, S. 114. http://www.neu.inkrit.de/mediadaten/archivargument/DA037/DA037.pdf
[iv] Ebd., S. 116.
[v] Ebd., S. 114.
[vi] Ebd., S. 116: „Erst die wissende Indifferenz, die sich durch Indifferenz nicht mehr geschützt sieht, ist zynisch.“